Prof. Dr. Jan M. Boelmann
Pädagogische Hochschule FreiburgInstitut für deutsche Sprache und Literatur
Zentrum für didaktische Computerspielforschung (www.zfdc.de)

"Es erfordert viel, seine Kinder auf dem Weg in eine unübersichtliche digitale Welt zu begleiten. Daher seid mutig und vertraut darauf, dass Eure Kinder viel können. Aber begleitet sie auch dabei: Habt offene Ohren für ihre Argumente, für ihre Erlebnisse, für ihre Fragen und – das wird gerne unterschätzt – ihre Antworten."
Ihr erstes Computerspiel?
Ich bin unsicher: Night Driver oder Alley Cat – in jedem Fall auf einem 8086er ohne Festplatte. Dann kam irgendwann der C64, eine Erleuchtung!
Wie war Ihr Eindruck? Wie hat Sie das geprägt?
Es war eine Zauberwelt, ich habe das aufgesogen und erinnere mich noch daran, dass mein Vater mir die Spiele morgens vor der Arbeit gestartet hat, als ich das selbst noch nicht konnte. Ich erinnere mich auch an das Reinbeißen, stundenlang mit Freunden auf einem zugigen Dachboden sitzen und die immergleichen Level erneut und erneut spielen, bis man es geschafft hatte. Vermutlich kommt meine Frustrationstoleranz daher und der Glaube daran, dass man alles schaffen kann, wenn man sich nur richtig reinhängt.
Welchen Anteil nimmt das Digitale heute in Ihrem Leben ein?
Digitalisierung ist in meinem Leben allgegenwärtig: Als Wissenschaftler arbeite ich vor allem am PC und versuche mich am papierlosen Büro. Die einzige Ausnahme machen da Bücher und Musik, die ich am liebsten in klassischer Medialität genieße.
Worin besteht zum einen Ihrer Meinung nach die Faszination, zum anderen die Qualität digitaler Medien?
Eine schwere Frage mit zwei Antworten: Zum einen die Möglichkeit, Dinge unglaublich einfach selber machen zu können. Selbst das günstigste Handy hat heute alle Produktionsmöglichkeiten, die in den 80er und 90er Jahren noch Expert*innen mit unsagbar teurem Equipment vorbehalten waren. Und dann gibt es noch die Rezeptionsseite: Auf den ersten Blick gewinnen digitale Medien ihre Faszination durch ihre Visualität – ein schönes Interface verzaubert sofort und macht Lust, mit diesen Spielwelten zu interagieren. Die Interaktion selbst ist dann das, was einen dabei hält. Die Möglichkeit, Einfluss auf das Geschehen am Bildschirm zu nehmen, schafft ganz neue Räume für das Erzählen von Geschichten oder erfahrungsbasiertes Lernen. Wenn das ganze dann noch in ein nachhaltig motivierendes und spielerisch herausforderndes Gewand überführt wird, ist alles dabei, was gute Software braucht. Die Qualität digitaler Medien ergibt sich aus der Passung von Optik, Interaktion und Inhalt, die gut aufeinander abgestimmt sein müssen, damit sich ein rundes Ganzes ergibt.
Was haben Computerspiele mit Lesen zu tun?
Die hier gerne gegebene Antwort lautet: „Auch in Computerspielen kommt Text vor, den man lesen muss.“ – das halte ich für großen Quatsch. In Zeiten von Sprachausgabe und selbsterklärenden Interfaces ist das ein Pseudoargument.
Es kommt erst einmal darauf an zu schauen, was man unter Lesen versteht. Möchte man das Entziffern von schwarzer Schrift auf weißem Grund fördern, helfen Computerspiele kaum – natürlich gibt es die ein oder andere gute Lernapp, aber hier spreche ich nicht von Computerspielen. Meint Lesen auch das Verstehen von Geschichten – also den Ausbau literarischer Kompetenz – , bieten Computerspiele unglaublich viele Potenziale, da ihre Geschichten nur dann weitergehen, wenn die Spieler*in das Erzählte bis hier hin verstanden hat. Nur dann kann man mit der Spielwelt interagieren und das Spiel genießen.
Wie können Kinder Medienkritik lernen?
Die Fähigkeit zur Medienkritik entwickelt sich wie jede andere Form von kritischem Habitus auch: Erfahrungen sammeln und Raum haben, darüber zu reflektieren. Dabei helfen kompetente Partner sehr – das können Freund*innen, Eltern und auch Lehrer*innen sein. Fehlt eines der Elemente, wird es schnell kritisch: Ohne Austausch verkommt die Mediennutzung schnell zum geistlosen Konsum, ohne eigene Erfahrung zum kontextlosen Belehrt werden – beides sollten wir vermeiden und Kindern Erfahrungs- und Resonanzräume eröffnen, damit sie sich als kompetente Menschen erfahren können.
Was ist/macht das Zentrum für didaktische Computerspielforschung?
Am Zentrum für didaktische Computerspielforschung (www.zfdc.de), das ich im Oktober 2019 mit meinen Mitarbeiter*innen an der PH Freiburg gegründet habe, erforschen wir interdisziplinär die Potenziale von Computerspielen für formale, also schulische Bildungskontexte. Dabei nutzen wir die Software, die da ist, also Spiele, die als Spiele entwickelt wurden. Dieses Ziel setzen wir in drei Säulen um: Forschung, Bildung, Beratung.
In eigenen und von uns begleiteten Forschungsprojekten von der kleinen studentischen Hausarbeit bis zum großen fremdfinanzierten Drittmittelprojekt sammeln wir vielfältige Erkenntnisse, die dann wiederum in die Bildungsarbeit einfließen. Hier adressieren wir alle Phasen der Lehrer*innenbildung von der Ausbildung bei uns an der Universität hin zu Fortbildungsangeboten und Materialien für gestandene Lehrer*innen. Beratend stehen wir Lehrmittelverlagen und Softwareentwicklern zur Seite, die Computerspiele in ihre Lehrwerke oder Lehrreiches in ihre Computerspiele integrieren wollen.
Was möchten Sie Eltern zu diesem Thema auf den Weg geben?
In einem Satz? „Seid mutig!“. Es erfordert viel, seine Kinder auf dem Weg in eine unübersichtliche digitale Welt zu begleiten. Daher seid mutig und vertraut darauf, dass Eure Kinder viel können. Aber begleitet sie auch dabei: Habt offene Ohren für ihre Argumente, für ihre Erlebnisse, für ihre Fragen und – das wird gerne unterschätzt – ihre Antworten. Dabei ist Zuhören nur der erste Schritt, Mitmachen der zweite. Daher seid mutig und verlasst eure eigene Komfortzone: Gerade bei Computerspielen zieht man sich gerne darauf zurück, dass man das ja nicht so gut kann und lässt es dann auch – vielleicht guckt man mal zu. Seid ein Vorbild und stellt Euch der Herausforderung! Neues zu lernen ist wichtig. Euere Kinder können das viel besser? Dann lernt von ihnen. Lebt vor, dass es gut ist, Hilfe anzunehmen, an sich zu arbeiten und sich stetig zu verbessern, auch wenn es mühsam ist. Ihr werdet die Medienwelt Eurer Kinder besser verstehen und auch selber viel über sie und Euch selbst lernen.
Was raten Sie Kindern in Umgang mit der digitalen Welt?
Ich rate Kindern gar nicht so viel. Ich höre eher zu und gebe dann situativ Tipps. Es gibt so viel zu lernen und zu wissen, soviel zu erkunden und auszuprobieren, da braucht es keine Vorträge, da braucht es stetige Begleitung. Gerne ermutige ich Kinder aber, Dinge selber zu machen: Eigene Filme zu drehen oder Lets plays aufzunehmen. Durch das selber gestalten erlebt man nicht nur die eigenen Fähigkeiten und die Möglichkeiten der digitalen Welt ganz neu, man lernt auch, die sonst servierfertig präsentierten Produkte des Netzes kritischer zu sehen und sich mit ihnen auseinander zu setzen.